Begehbare Literatur

[...] Schnell gewinnt man nach dem Betreten Lust, hemmungslos zu stöbern, sei es im Bildband über die schnellsten Züge der Welt, Rudolph Moshammers "Mama und ich" oder Stéphane Hessels Manifest "Empört euch". Die Bandbreite ist groß, die Reizüberflutung für jeden Buchliebhaber auch. Am liebsten würde man hier Stunden verbringen. Aufgeteilt sind die Bücher nach Farben, rot, grün, blau, es gibt Themeninseln, etwa Sex oder Religion und kleine, versteckte Büchertresore mit Geheimnissen für junge und ältere Besucher. [...]

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Florian J. Haamann in Süddeutsche Zeitung 24.10.2019

Literatur als Baumaterial

Kleid aus Micky Maus-Heften. Foto: Hannelore Bohm
Kleid aus Micky Maus-Heften
Gemütlich sitzen auf Literatur. Foto: Hannelore Bohm
Gemütlich sitzen auf Literatur
Wandteppich aus Buchseiten. Foto: Hannelore Bohm
Wandteppich aus Buchseiten. Man kann sogar leichte Segel daraus machen.
Lotte Llacht, Konrad Schupfner, Dr. Sepp Wittmann. Foto: Hannelore Bohm
Wer mag, kann auf einem richtigen „Thron“ sitzen und schmökern, zeigen hier Lotte Llacht, Bürgermeister Konrad Schupfner (Mitte) und Dr. Sepp Wittmann. Und wer dabei an den „armen Poeten“ von Spitzweg denkt, liegt gar nicht so falsch.

Inspirierende Ausstellung im Fürstenstock der Burg Tittmoning

Tittmoning. „Provokative und künstlerische Aktionen sind zweckgebundene Mittel, um den Wert des Gedruckten zu erhalten“ meint Lotte Llacht, Schauspielerin, Regisseurin, Objektkünstlerin, Literaturwissenschaftlerin und Buchladenbesitzerin in Burghausen und zeigt im Fürstenstock der Burg Tittmoning ihr Projekt „Bücherparkett“. Auf 60 Quadratmetern Literatur, kundstvoll geordnet nach Farben, kann man laufen, sitzen, sich fläzen, barfuß oder in Socken den warmen Untergrund spüren, das angenehme Raumklima genießen und, und, und – und außerdem ab 19 Uhr Lesungen lauschen, die vom 11. bis 22. April täglich stattfinden. Heißer Tipp: Hingehen, sich mitreißen lassen, auf eigene Ideen kommen!

Bücher im Regal – allenthalben vorzufinden. Da werden sie gelesen, abgestaubt, dann vielleicht verschenkt, oder „entsorgt“. Schade. Aber dass man mit Büchern viel mehr machen kann, zeigt Lotte Llacht: Wände schmücken, Fußböden auslegen, mit Glasplatten belegen und so einen Tisch bauen, stapeln und so zur Sitzgelegenheit werden lassen, falten, Kleider herstellen, Wandbehänge, Taschen, Verstecke für Schätze oder Hochprozentiges, Schmuck und sogar Palmen bauen. So geschehen in der Ausstellung in Tittmoning.

Es ist ein sinnliches Erlebnis, voller Überraschungen und die Besucher der Vernissage genossen es ausgiebig. Natürlich daref man auch drin lesen, in all den neuen, alten und uralten Schätzen, Bildbänden, Romanen, Kochbüchern, Krimis, Gedichtbänden – eine herrliche Auswahl! Jeder darf kommen und schmökern – einzige Bedingung: die Bücher sollen wieder an ihren Platz zurück, damit die ganze Installation nicht aus den Fugen gerät, denn Lotte Llacht hat sie in mühevoller Arbeit kunstvoll verlegt.

Und weil sie nicht nur Bücherliebhaberin, sondern – unter anderem – Schauspielerin ist, unterhielt sie die Besucher auch mit dieser Kunst, locker und amüsant. Sehr inspiriert zeigte sich Bürgermeister Konrad Schupfner bei seiner bemerkenswerten Eröffnungsrede. Er zitierte zunächst Heinrich Heine: „Von allen Welten, die der Mensch erschaffen hat, ist die der Bücher die gewaltigste.“ „Als ich von dem Projekt von Lotte Llacht hörte, hatte ich zunächst zwei Gedanken“, verriet er. „Zunächst dachte ich, die Bücher sind doch viel zu schade, als dass man auf ihnen stehen und rumlaufen sollte. In dem Sinn also, dass die Bücher zweckentfremdet, um nicht zu sagen missbraucht werden. Wenngleich es sicher Bücher gibt, die mir von Haus aus nicht zu schade sind. Im Gegensatz dazu dachte ich als Zweites: beim Bücherparkett da steht man geradezu auf geballter Bildung. Unvorstellbar, weil unbekannt, mit wieviel Wissen da unsere Füße in Berührung kommen. Was wäre, wenn dieses Wissen womöglich überspringt und alle, die dabei sind, mit mehr Wissen und mehr Bildung vom Bücherparkett weggehen?“

Und dann „beichtete“ das Stadtoberhaupt, wie seine Bücher im Büro mit ihm „gesprochen“ haben. Es war äußerst amüsant und geistreich, wie sich da die Bildbände, die Lexika, Sachbühcer, Hörbücher meldeten, teils höchst anklagend. Dagegen verteidigte er sich und erinnerte daran, wie er sich das Geld für den Erwerb in der Schulzeit vom Mund abgespart hatte. „Und wegen der Wertschätzung habe ich euch behalten, obwohl ihr ja alles andere als auf der Höhe der Zeit seid. Ich habe euch nie weggeworfen, sondern ich habe für euch ganze Regalreihen reserviert. Da fühle ich mich ungerecht behandelt!“. Und an die Sprichwortsammlungen gerichtet, konnte er sich nicht verkneifen, darauf hinzuweisen, dass man im Internet viel schneller fündig werden könnte.

Das Publikum vernahm‘s mit Amüsement – und wurde seinerseits fündig in dem riesigen Angebot. Es sei sehr empfohlen, sich auf die Socken zu machen und mit – fast – allen Sinnen das Bücherparkett zu genießen. Es ist mittwochs bis sonntags von 13 bis 17 Uhr geänffnet und die täglichen Lesungen ab 19 Uhr mit Autoren aus der näheren und weiteren Umgebung sind außerdem interessant.

Hannelore Bohm (Text+Fotos), in der Opens external link in new windowSüdostbayerischen Rundschau vom 9. April 2018 (mit freundlicher Genehmigung)