Gesichter einer Stadt

Hoyerswerda 1977-1987

  • Buchtitel

Autor: Lotte Reitzner
Fotografien: Torsten Lützner und Holger Griebsch

Reportagen und Interviews zur Zeitgeschichte.

Auftragsarbeit für das Kulturprojekt "Die 3. Stadt" der Kulturfabrik Hoyerswerda e.V. im Rahmen der deutsch-deutschen Projektreihe "Die Einheit beginnt zu zweit", gefördert vom Fonds Soziokultur, dem Austauschfonds Ost-West der Kulturstiftung des Bundes, Aktion Mensch, Stadt Hoyerswerda, Kulturraum Oberlausitz/ Niederschlesien. Selbstverlag 2007

Vorwort

Im Frühjahr 2007 bekam ich von der Kulturfabrik Hoyerswerda eine Liste mit zwanzig Namen und Adressen sowie einen Stadtplan in die Hand gedrückt, lieh mir das Dienstfahrrad der Kufa aus und machte mich auf, die Stadt durch ihre Menschen kennen zu lernen. Ich bekam die Wohnzimmer und Küchen, Fotoalben und Brigadebücher zu sehen und ganz persönliche Lebenserinnerungen zu hören. Ich wurde Augen- und Ohrenzeugin. Es ist schon eine ganz besondere Art der Stadtbesichtigung, so von innen nach außen.

Vorgabe für das Projekt "Gesichter einer Stadt" war, Hoyerswerda in den Jahren 1977- 1987 abzubilden. Meine erste Enttäuschung, dass ich nicht die spektakuläre Dekade nach der Wende abbekommen hatte, verflog schnell, als ich merkte, dass sich mir als unwissender Wessi die Gelegenheit bot, einen ganz unmittelbaren Einblick in das Leben und den Arbeitsalltag der DDR zu bekommen. Ich empfand es als große Bereicherung, dass die Befragten mir ihre ganz persönlichen Erlebnisse und Geschichten anvertrauten - aus einer Zeit, die ich nie gekannt habe und aus einer Stadt, die für mich zu dieser Zeit ferner lag als Amerika.

Nun ist es mit der Erinnerung so eine Sache. Der Akt des Erinnerns ist kreativ, weil die Bilder, Gefühle, Tatsachen, die man "heraufholt", jedes Mal neu zusammengesetzt werden. Das Wie ist abhängig von der Gesprächspartnerin, vom Wetter, vom eigenen Befinden. Der Prozess ist subjektiv. Das menschliche Gedächtnis erinnert sich der Vergangenheit nicht, wie sie tatsächlich war, sondern konstruiert aus einzelnen Erinnerungsstücken eine neue Vergangenheit, die das Leben in der Gegenwart erleichtert.

Sind Sätze wie "das war die schönste Zeit meines Lebens" oder "uns fehlte es an nichts" schönfärberisch? Ist  es unwahr, wenn jemand erzählt, "eine Zweiraumwohnung in Hoyerswerda war der Inbegriff von Luxus"?  Es ist subjektiv - und relativ.
Genau so eine Sache ist es mit dem Zuhören und dem Mitschreiben. Meine Westohren hören das Gesagte manchmal anders, als es gemeint war, sie reagieren auf andere Signalworte und Zwischentöne (wobei sie im Punkto Zwischentöne sicherlich sehr viel schwerhöriger sind, als die feinen Ostohren!). Dinge, die für DDR -Bürger Alltäglichkeiten waren, haben für mich Sensationscharakter. Eine Frau, die einen Portalkran fährt, fasziniert mich - im Braunkohlestandort Hoyerswerda war das womöglich gang und gäbe? Wenn diese Frau dann von sich behauptet, "ich bin Maschinist", dann kriege ich fast einen Lachanfall, die männliche Endung des Substantivs kommt bei mir so an, als hätte sich mir Frau Müller gerade mit "Herr Müller" vorgestellt. Habe ich richtig gehört? Da erzählt mir jemand begeistert von der Singebewegung und ich bedauere ihn das halbe Interview lang, dass er seine Jugend im Ledigenclub verbringen musste, weil mein Ohr daraus eine "Singlebewegung" gemacht hat. Gut, dass ich so unhöflich war, doch noch nachzuhaken! Anderes, was mich brennend interessiert hätte, fragt man nicht. "Waren Sie bei der Stasi?" Oder "waren Sie in der Partei?" – prompt erzählt die nächste Person so begeisternd frank und frei von ihrer spannenden, sinnvollen Arbeit als Genossin, dass ich mich wundere, welcher Kapitalistenpropaganda ich in meiner Kindheit in Bayern wohl aufgesessen bin. Und - ist WK die Abkürzung für Wohnkollektiv oder für Werkzeugkombinat?

Und dann gibt es noch ein drittes Moment bei diesem Buchprojekt, für mich das kreativste. Für die beschriebenen Personen aber möglicherweise ein Stein des Anstoßes. Es ist das Schreiben, das Auswählen der Bilder, Gefühle und Tatsachenberichte, die für mich "heraufgeholt" wurden. Das Formulieren und Zusammensetzen der Worte. Es ist subjektiv. Mancher wird sich hier nicht richtig abgebildet sehen, so wie man sich bei einem Foto nicht getroffen fühlt. - Und die Freunde erkennen einen doch.

Ich habe "Gesichter einer Stadt" als Mosaik angelegt. Jeder Mensch hat eine Farbe. Diese harmoniert oder kontrastiert mit der angrenzenden, so dass ein Gesamtbild entsteht. Jede Beschreibung ist also einseitig und auf einen gewissen Aspekt reduziert, damit auf der anderen Seite Platz ist, für ein neues Thema und eine kontrastierende Farbe.
Beim Zusammensetzen des Mosaiks habe ich lange getüftelt. Es kamen immer neue Menschen dazu, die einen meldeten sich auf einen Artikel in der Lausitzer Rundschau, andere sprach ich in der Stadt an, wenn sie mir auffielen. Einzelne Mosaiksteine musste ich wieder entfernen, mal war da zuviel Rot, dann nahm das Blaue wieder überhand. Es entstanden immer neue Bilder. Bilder einer Stadt. Eines Gesellschaftssystems.

Sie sind subjektiv. Sie sind von heute - aber von gestern. Hoyerswerda 1977-1987.

Das Buch kann zum Preis von 20 Euro bestellt werden (Versandkosten in Deutschland inclusive).